Leseprobe – Landwandlerin

Es war aussichtslos. Eine Ewigkeit lang hatte Dila dem Sturm getrotzt und sich Stufe für Stufe weiter den Passweg nach oben gequält. Nun aber war sie abgekämpft und ihr Körper sträubte sich heftig gegen jeden weiteren Schritt. Der Fallwind hatte die gesamte Zeit über nicht nachgelassen. Lediglich der Graupel hatte gestoppt, was jedoch angesichts fallender Temperaturen und beginnender Dunkelheit kaum ins Gewicht fiel. Hier ging es für Dila nicht weiter. Bei der Wetterlage war es aber unmöglich, das Biwak aufzubauen. Dilas Hose war trotz des Spezialmaterials durchnässt, und von innen kam verschwitzte, an der Haut klebende Kleidung dazu. Lediglich die Durajacke hielt zuverlässig die nasse Kälte von ihrem Oberkörper fern.
Dila wählte die einzige Möglichkeit, die ihr einfiel. Sie riss sich auf einem Vorsprung den bleischwer erscheinenden Tragsack vom Rücken, zerrte das Biwak heraus und stopfte stattdessen ihre Tasche hinein. Gerade wollte sie sich, so gut es ging, in die Zeltbahn hüllen und an die Bergwand drücken, als es geschah: Sie stieß gegen den Tragsack, und dieser rollte auf die abwärts führenden Stufen zu!
Mit einem schrillen Schrei stürzte Dila los, aber es war zu spät. Ein, zwei Stufen, dann immer weiter kollerte der Tragsack klappernd mit Kocher, Stablampe, Magnetodirektor, allen Vorräten, dem Wasser und der Wechselkleidung den Hang hinunter und stürzte in den Nebel. Das Poltern entfernte sich rasch und wurde bald vom Pfeifen des Windes übertönt.
Ohnmächtig und verzweifelt starrte Dila hinterher, bis sie sich nach einer Weile mutlos umdrehte und zur noch aufgewickelten Zeltbahn zurückkehrte. Zumindest diese war ihr noch geblieben und sie konnte sich darin einrollen. Die kleine Kapuze der Durajacke würde zwar kaum Wärme geben, aber wenigstens hielt sie den Wind von den Ohren ab. Mit dem Gesicht dem Boden zugewandt fiel Dila ausgelaugt, niedergeschmettert und müde in einen unruhigen Schlaf.

„Diilaa!“, erklang es in ihrem Kopf.
Was? Wie jetzt? Dort, direkt vor ihr … die kleine Esche, welche sie hatte wachsen lassen … „Ja? Womit kann ich dienen?“
„Diilaa, maan muuss deen Stiieel looslaassseen, uum aabzuusteeiigeen.“
Das hatte sie schon einmal gehört. Ihr Vater hatte diesen Spruch einige Male verwendet, bevor sie losgewandert war. Aber was sollte ihr das jetzt sagen?
„Maanchmaal liieegt niicht iim Kaampf deer EErfoolg, soondeern daariin, diiees zuu beeheerziigeen.“
„Liebe Esche, ich soll aufgeben?“
„Looslaassseen beedeeuuteet niicht aauufzuugeebeen, soondeern zuu aakzeeptiieereen.“
Dann strich die Esche mit einem Zweig über Dilas Gesicht. Aber dieser war eiskalt, und Dila zuckte zusammen, fuhr auf und blinzelte. Huch? Was war denn jetzt los? Sie lag frierend in eine Zeltbahn gehüllt auf einem Vorsprung am Fuße steinerner Stufen. Das Tageslicht war bereits zurückgekehrt, über ihr spannte sich ein blauer Himmel auf.
Aber … das bedeutete ja … erstens hatte sie geträumt, und zweitens war das Unwetter vorbei! Es stürmte zwar noch ein wenig, aber von Nebel war keine Spur mehr zu sehen. Im Osten begann die Sonne bereits damit, die Kesselebene mit ihrem goldenen Licht zu benetzen. Es war ein wundervoller Anblick, aber so schön Dila ihn auch fand, sie musste sich nun um andere Dinge kümmern. Zum einen waren ihre Schuhe, Hose und ihr Haar vollkommen durchnässt, zum anderen war der Schweiß an ihrem Körper klamm geworden und hatte ihm Wärme geraubt, so dass sie wie Espenlaub zitterte. Sie streckte vorsichtig ihre steifen Gliedmaßen, bis sie sich wieder einigermaßen bewegen konnte.
Was aber sollte sie nun tun? Sie hatte keine Ahnung, wie weit es noch bis zum Pass hinauf war, und der Rückweg den Steilhang hinunter nach Karlingen würde wenigstens anderthalb Tage dauern – zu lange ohne Ausrüstung, Essen und Wasser. Eine Quelle oder einen Bach schien es hier auch nirgendwo zu geben … Mit klappernden Zähnen blickte Dila sich um, als ihr auffiel, dass sich über ihr gar kein Steilhang mehr erstreckte. Nur das Blau des Himmels war in westlicher Richtung zu sehen, Federwolken zogen daran entlang. Das aber konnte nur heißen … Mit ein paar Sätzen hastete Dila die sieben, acht vor ihr liegenden Steinstufen hinauf und betrat eine kleine Plattform. Und dort bot sich ihr im Gegenwind unvermittelt ein beeindruckender, atemberaubender Anblick.
Vor ihr lag das Iravontal, welches noch im Schatten des Man-Hano-Gipfels zu ihrer Linken und des Man-Göt-Massivs zu ihrer Rechten schlummerte. Die kleineren Bergspitzen in Richtung des Horizonts wurden bereits von der Sonne in ein glühendes Licht getaucht. So weit das Auge reichte, hatte der Sommer das Land mit prachtvoller Vegetation bedeckt. Und zu ihren Füßen erstreckte sich quer durch das Tal die Stadt Irania mit ihren herrlichen, liebevoll gestalteten und weithin weiß leuchtenden Gebäuden sowie den prunkvollen Türmen und geschwungenen Bögen auf den angrenzenden Hügeln. Der von vielen kunstvoll gestalteten Brücken gekreuzte Fluss Iravon schlängelte sich in sanften Windungen durch die Stadt hindurch und verschwand dann hinter der Flanke des Man Hano.
Dila vergaß, dass sie fror und durchnässt war. Mehrere Mittelzeiten lang verharrte sie mit offenem Mund auf dem Pass und verlor sich in diesem majestätischen Anblick. Das war just der Moment, auf den sie so lange hingearbeitet hatte. Nur die Umstände entsprachen so gar nicht dem, was in ihrem Sinn gewesen war. Eigentlich hatte sie nun gemächlich und friedvoll den Pass herabschreiten und mit Glücksgefühl im Bauch triumphal in die Stadt einziehen wollen. Stattdessen stand sie schlotternd, durchnässt und ihrer Ausrüstung beraubt auf dem Grat und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Auch der Abstieg nach Westen würde wenigstens eineinhalb Tage dauern. In ihrem Zustand wusste sie aber nicht, ob sie eine weitere Nacht im Freien überstehen oder krank werden und sich den Tod holen würde.
Ihr Traum fiel ihr wieder ein. Was hatte die Esche darin gesagt? Loslassen hieß nicht aufzugeben, sondern zu akzeptieren … Die Eschenreiter hatten recht gehabt. Ihre Wanderung hätte in Karlingen beendet sein können, sie hatte so viel gelernt und ein neues Bewusstsein für sich entwickelt. Stattdessen hatte sie sich an der Idee festgebissen, unbedingt Irania erreichen zu müssen. Womöglich war dies nun das Letzte, was sie lernen sollte: dass man besser rechtzeitig aufhörte. Und womöglich war der Preis, den sie für diese Lektion zahlen musste, sehr hoch.

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