Leseprobe – Lindenreiter

[…]
Lächelnd rollte Kai sich ein. Wie er es bereits kannte, nahm ihn ein Blatt auf, und dann begann das herrliche Auf und Ab des Federns. Die Halme spürten sofort, dass er zum Strand wollte; ein kurzer Gedanke an die Stelle, wo das Familiencamp gewesen war, reichte aus und er war auf Kurs. Allerdings fühlte es sich bei Dunkelheit noch seltsamer an als am Tage.
„Beherbergt ihr eigentlich Worger?“, wollte Kai noch wissen.
„…wwWesen mit ssscharfffen Zzzähnen wie die in deinem Geissst waren lange nicht mehr hier …“, säuselte der Wind. „…ssSei beruhigt …“
Aufgefangen, hochgeschleudert, fliegend … es war auch unter dem Teppich aus Sternen schön, sich so voran zu bewegen. Inzwischen war Kai geschickt darin geworden, den Kopf im richtigen Moment zu neigen, so dass er sich beim Federn nicht wehtat. Er konnte sich am höchsten Punkt der Flugbahn sogar kurz strecken, die Arme ausbreiten und den Nachtwind durch seinen ganzen Körper spüren. Viel schneller als erwartet verlangsamten sich die Bewegungen des Grases und schon wurde er sacht am Dünenstreifen abgesetzt.
Kai vergaß nicht, dem Gras und der Großen Mutter zu danken. Wie schön, so etwas erleben zu dürfen! Nach einigen Schritten hatte er den moosbewachsenen Flecken am Strand erreicht, auf dem der Vortisch gestanden hatte. Kummer stieg in ihm auf. Traurig blickte er zum östlichen Horizont über das Meer, wo der Silberstreif sich zu einem leichten Morgenlicht verbreitert hatte. Von dort waren sie gekommen, ganz sicher. Das riesige Schild stand immer noch am Strand, ein Fremdkörper aus einer anderen Welt, völlig fehl am Platz.
Nach einem Moment des Verweilens begann Kai in Richtung des Küstenwaldes zu gehen und zu suchen. Jeden Büschel Moos, jedes Blattstück drehte er um, grub schließlich verzweifelt hier und da im Sand, wo dieser einen Haufen gebildet hatte. Er musste sich einfach vergewissern, dass die Suchtrupps nichts übersehen hatten. Im Osten wurde es heller und heller, bis sich schließlich ein orangeroter Ball allmählich aus dem Wasser zu erheben schien und eine goldene Straße zum Horizont zeichnete. Kai liebte solche Anblicke und fuhr den leuchtenden Streifen mit seinem Blick entlang, als er plötzlich stutzte. Da lagen ja zwei nianianische Schiffe auf dem Meer. Keine Fischkutter oder Boote, sondern richtige imposante Schiffe. Aus dem Augenwinkel heraus erspähte Kai südlich davon weitere Objekte auf dem Wasser. Es waren drei andere Schiffe, welche vor der Küste dümpelten. Sie hatten keine Masten, es handelte sich also um große Motorkähne, vermutlich aus Metall. Und dort, ganz weit hinten, waren noch mehr Schiffe, die unbeweglich auf dem Meer trieben. Dies war ungewöhnlich.
Was war hier los?
Unerwartet vernahm Kai plötzlich Stimmen auf dem Dünenstreifen. Er wandte sich um und erspähte fünf Männer und drei Frauen, die über die Düne stiegen. Einer der Männer ging auf Kai zu und fragte: „Bist du auch aus dem Dorf?“
„Nein, ich bin nur zu Besuch“, entgegnete Kai, während bereits weitere Rotten von Menschen teils mit Fuchshunden, teils mit Sensen und Mistgabeln die Düne überquerten. Das halbe Dorf schien auf den Beinen zu sein! „Was geschieht hier?“, fragte Kai den Mann, der die Stirn runzelte.
„Hast du denn die Botschaft nicht vernommen? Urgalan, ein Land der Riesen, versucht sich uns einzuverleiben! Es soll heute nach Sonnenaufgang geschehen. Die Reiter sind übers Meer geritten, sie haben die anrückenden metallenen Schiffsgiganten bereits erspäht. Auch sie werden bald hier sein.“
Die Reiter! Das war neu für Kai, ebenso wie die offenkundige Aussicht auf ein ungleiches Gefecht noch an diesem Morgen. Er sah den Mann an und fragte: „Wollen diese Menschen etwa kämpfen? Das wird so nicht funktionieren, die erste Welle wird sie davonspülen, wenn die Metallmonster hier landen!“
„Wir tun alle, was wir können, um unsere Flecken zu schützen“, seufzte der Mann.
In einiger Entfernung kamen wieder Menschen über die Düne. Und diesmal erkannte Kai ein paar Leute der Schadensabwehr, Klaus, den Dorfwart Piet, Matt und sogar Hein, der grimmig aussah. Als Kai auf ihn zuging, fiel ihm beinahe die Pfeife aus dem Mundwinkel. „Do brat mir doch einer … Jong, wat machst du denn hier?? Du liegst denk ich im Bett und döst?“
Kai wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu, denn über ihm erhob sich ein gewaltiges Rauschen. Als er nach oben blickte, stockte ihm der Atem: So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen.
Zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden, kamen in vielen Schleifen, Reihen und anderen Figuren die Reiter auf ihren Himmelsbooten daher. Dort waren Eichen-, Rötlurm-, Ahorn-, Pappel-, Linden-, Birken-, Hailabel-, Wildgratsch- und Buchenreiter – und noch viele andere, die Kai nicht genau erkennen konnte. Wie Zugvögel schwebten sie über den Strand in Richtung Meer, um dort zu wenden und sich in eine Art Warteschleife zu begeben. An vorderster Position erspähte Kai einen Mann in einem silbrig schimmernden Gewand. Er hatte wehendes helles Haar und trug grüne Stiefel mit einem Blattfortsatz an den Absätzen. „Sieh doch“, rief er Hein höchst erregt zu, der wie die meisten anderen mit offenem Mund nach oben schaute. „Der Erste vom Klan der Lindenreiter!“
Es beginnt

Am frühen Morgen war May außer den beiden Brukas die erste, die noch vor Sonnenaufgang wach war. Sie fühlte sich bereits wieder so stark, dass sie den beiden beim Wasserholen und Feuermachen helfen wollte. Sus schaute etwas zweifelnd drein, aber nach einem kurzen prüfenden Blick entschied Ama mit sanfter Stimme, dass sich May mit in die Arbeit einbringen dürfe. Marc und Phil traten kurz danach gähnend und die ausgestreckten Arme reckend beim ersten durch den Küstenwald filternden Morgenlicht vor die Hüttentür. Die Tränke schienen Wunder gewirkt zu haben, eine derart schnelle Genesung war nicht das, was man landläufig erwarten konnte. Als Phil Ama deswegen ansprach, erfuhr er, dass bei May etwas mehr nötig gewesen war – nachdem die beiden Brukas sie dem Tode nah am Rande des Dünenstreifens gefunden hatten, hatte nur das direkte Anrufen der Kraft der Großen Mutter ihr Leben retten können. Auf seine Nachfrage hin erklärte Ama ihm, dass sie eine Art Heilmeditation über May durchgeführt hatten. Noch einmal dankte er ihnen mit Tränen in den Augen für die wundersame Rettung, als Ama plötzlich stutzte und einige Male in den Wind hinein roch, der von See her sanft durch den Küstenwald blies.
„Sus, es geschieht jetzt“, sagte sie zwar leise, aber doch mit ungewohnter Unruhe in der Stimme. „Eile und bringe sie zurück zu ihrem Ort am Wasser. Hilf bitte, ihre Sachen zu nehmen, ich rüste den Osled. Wenn sie dort sind, verweile nicht; folge mir schnell an unseren Ort des Morgens.“
Sus ließ die Späne fallen, die sie gesammelt hatte, und lief in die Hütte. Auf der Schwelle drehte sie sich um und sprach zur Familie: „Folgt mir, bitte. Es ist nur sehr wenig Zeit.“ Die drei hatten bereits verstanden. Aber welche Sachen sollten sie mitnehmen? Sie waren in dem gekommen, was sie trugen.
Sus ging zu einem Schrank, holte einige kleine Netze mit Kräuterschnetzeln darin heraus und legte sie auf den Tisch. „Morgens und abends einmal eine kleine Menge aufgießen und trinken, nicht mehrmals verwenden. Nehmt sie und was sonst fehlen möge, dann werden wir abfahren!“
Phil hatte einen immer noch etwas klammen Beutel in der Tasche, in welchen die Netze hineinpassten und den er an seinem Gürtel befestigen konnte. Ungeduldig trippelte Sus an der Hüttentür hin und her, als Ama sie auch schon von außen öffnete und ihre Stimme in der Stube erklang: „Jetzt, bitte!“
In den letzten Tagen hatte niemand von ihnen Ama so erregt gesehen. Phil, May und Marc hasteten zum hölzernen Schlitten, vor dem die Ogons schnaufend und mit gespannten Muskeln warteten. Kaum waren sie aufgesessen, ergriff Sus die Zügel und sie schossen in südlicher Richtung los. Kratzend und scharrend raste das altertümliche Gefährt in…

Kommentare sind geschlossen.